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Fr, 10:00 | Keynote Harald Erik Tichy, Fluidität - ein bislang unterschätzter Wert? Über das Kultivieren der Grundhaltungen im Personzentrierten Ansatz im Dialog mit dem frühen Buddhismus.

 

Carl Rogers verstand Psychotherapie als Prozess der Persönlichkeitsentwicklung von einer Erlebnisweise relativer Rigidität, Inkongruenz, Gefühlsverschlossenheit und Fixiertheit in Richtung größtmöglichen Im-Prozess-Seins. Für diese idealtypische Seinsweise prägte er in seinem Konzept des Prozesskontinuums – für Rogers einer der wichtigsten Theoriebausteine seiner Psychotherapietheorie – die beiden Fachbegriffe „sich voll verwirklichende Person“ [fully functioning person] und „Fluidität“ [fluidity]. Letztere impliziert für Rogers Offenheit für Erfahrung, Unmittelbarkeit des Erlebens, Bewusstheit, Kongruenz, Kreativität. Während über die „fully functioning person“ in unserem Ansatz schon viel reflektiert wurde, fand das Konzept der „Fluidität“ bis jetzt noch wenig Beachtung. Dies ist erstaunlich, denn Rogers äußerte ausdrücklich, dass das Symbolisieren des oberen Pols des Prozesskontinuums mit „Fluidität“ einen ihm wichtigen persönlichen hohen Wert impliziert, dem wohl nicht jeder zustimmen wird. — Wie steht es mit uns, die wir mit dem Personzentrierten Ansatz arbeiten? Ist Fluidität auch für uns ein hoher Wert?

Wie bekannt, entwickelte Rogers das Konzept des Prozesskontinuums für den Wandlungsprozess von Klient*innen. Allerdings lässt es sich ebenso für den selbstbestimmten Entwicklungsprozess von uns mit dem Personzentrierten Ansatz Arbeitenden anwenden. Wenn wir im Personzentrierten Ansatz von Grundhaltungen sprechen, denken wir ja üblicherweise ausschließlich an Kongruenz, bedingungsfreie Wertschätzung und Empathie. Rogers nannte darüber hinaus jedoch noch zwei weitere Einstellungen, die sinngemäß zu kultivierende Grundhaltungen sind: Nichtdirektivität und Vertrauen. Zudem warf Rogers in seinem letzten Interview eine radikale Frage auf, die auf die gegebenenfalls wichtigste Grundhaltung hinweisen könnte: Habe ich in meinen Schriften vielleicht zu viel Gewicht auf die drei Therapeuteneinstellungen gelegt und dabei das wichtigste Element in der Therapie übersehen, nämlich sehr klar und offensichtlich präsent zu sein? (Rogers 1987k, paraphrasiert) — Zum einen scheint die Antwort auf diese Frage evident zu sein: Natürlich ist sehr klar und offensichtlich präsent zu sein eine Bedingung für das Aktualisieren der drei Therapeuteneinstellungen. Wie wäre das sonst möglich? Darüber hinaus lässt sich Rogers‘ Frage im Dialog mit dem frühbuddhistischen Meditationsverständnis jedoch noch weitaus differenzierter mit einem eindeutigen Ja beantworten, wie in diesem Vortrag dargelegt werden wird.

Falls wir diesen Überlegungen zustimmen, weckt dies vielleicht eine brisante – zutiefst persönliche – Frage für uns im Hinblick auf unsere Arbeit … und möglicherweise grundsätzlich die Gestaltung unseres Lebens und unserer Beziehungen: Wie verändert sich das Aktualisieren unserer therapeutischen Grundhaltungen – nun umfassender verstanden als Lebenshaltungen – Vertrauen, Nichtdirektivität, Präsent-Sein, Kongruenz, bedingungsfreie Wertschätzung und Empathie, wenn wir selbst in unserem Mit-Sein fluider, flüssiger werden?

Harald Erik Tichy (2018). Die Kunst präsent zu sein. Carl Rogers und das frühbuddhistische Verständnis von Mediation. Leseprobe

 

Dr.scient.pth. Harald Erik Tichy

Personzentrierter Psychotherapeut, Meditationslehrer, Yogalehrer, Psychotherapiewissenschaftler (Fachgebiet: Dialog zwischen Psychotherapie und frühem Buddhismus), Lehrbeauftragter für personzentrierte Psychotherapie und Achtsamkeitsmeditation und von 2017 bis 2025 Lehrgangsleiter des Universitätslehrgangs „Achtsamkeit in medizinischen, psychosozialen und pädagogischen Berufen" an der Sigmund Freud Privatuniversität (SFU) Wien.

tichy@lebenskunstpraxis.at

www.lebenskunstpraxis.at